Der Weg
 

Nach Ewigkeiten des stumpfen Daseinfristens, nach unendlich scheinender Monotonie, Sekunde für Jahrzehnt das selbe, nach dem Grau und den Farben der allgegenwärtigen Welt ereilte ihn eine Stimme schwach und doch so lieblich, daß er es auch nur für einen kurzen Augenblick wagte seinen Blick leicht zur Seite zu wenden. Ungläubig dem dort erblickten richtete er seinen Blick aber wieder nach vorne – gerade aus – monoton.

Doch Nacht für Nacht, wenn er in Stille getaucht den Geräuschen aus der Dunkelheit lauschte, holte ihn die Erinnerung dieses einen Augenblicks ein – die Stimme, welche er damals vernommen, lies ihn nicht mehr schlafen – und Fragen begannen sich ihren Weg durch seine Gedanken zu bahnen. Kam die Stimme aus der Richtung in die er nur kurz zu blicken wagte? Kann etwas so schönes von dort kommen? Ist es dort wirklich so schlimm wie es überall heißt? Ist der Weg aller wirklich der für mich richtige?

Neugierig begann er seine Blicke immer öfter zur Seite zu schwenken. Seine Ohren wurden empfindlich auf die dortigen Stimmen. Er verpaßte keinen Bericht im Fernsehen. Doch jeder dieser Berichte zeigte es so anders als die Stimme noch immer in seinem Kopf umher klang. Sie schienen nur Schlechtes zu zeigen. Aber die Stimme war doch so lieblich – ausgeschlossen, daß sie schlecht sei. Nie hätte diese Stimme aus etwas Schlechtem entspringen können.

Und nun begann er nicht nur immer öfter in diese Richtung zu schauen und zu hören – langsam verließ er den Weg aller – den geraden Weg – und näherte sich immer mehr der Quelle der Stimme. Bei jedem Schritt zeigte sich diese verborgene und in den Berichten so schlecht gesagte Welt etwas mehr. Bei jedem Schritt wurde sie schöner. Ein Wohlbefinden überkam langsam seinen Körper – und auch bald seinen Geist. Je weiter er ging, desto größer wart dieses Gefühl, und als er endlich den geraden Weg nicht mehr sehen konnte – als er sich weit abseits seiner alten Welt in dieser nieder ließ, erblickte er endlich die Quelle dieser zart sein Gemüt streichelnden Stimme ... und er wart nie mehr gesehen – in der geraden Welt.

  12.05.2001


<<< zurück